Das Scheitern der „Zweistaatenlösung“? Überlegungen zur aktuellen Lage im Nahen Osten

Politik

Die folgenden Überlegungen schreibe ich in keiner Weise mit dem Anspruch, „Experte“ für Nahost-Fragen zu sein.

Das Viertel El-Remal in Gaza Stadt nach einem Bombardement der israelischen Luftwaffe am 9. Oktober 2023.
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Das Viertel El-Remal in Gaza Stadt nach einem Bombardement der israelischen Luftwaffe am 9. Oktober 2023. Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages (CC-BY-SA 3.0 cropped)

14. Oktober 2023
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Ich möchte mit ihnen einfach für mich festhalten und zur Diskussion stellen, wie ich den erneuten Gaza-Krieg versuche, zu verstehen. Wenn darauf jemand kritisch und / oder zustimmend antworten möchte, ist das willkommen, sofern es ein sachlicher Beitrag ist.

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Es ist nicht möglich, den Angriff der Hamas auf israelisches Staatsgebiet ausserhalb des Kontextes von israelischer Besatzung und palästinensischem Widerstand in seiner Geschichte und Gegenwart zu verstehen. Über das konkrete militärische und politische Ziel und Konzept der aktuelle Hamas-Aktion ist derzeit noch wenig bekannt.

Die israelische Reaktion darauf zielt ausdrücklich, in dieser Form erstmalig, auf die restlose Vernichtung der Hamas ab. Angesichts allein der räumlichen Verhältnisse im Zielgebiet der israelischen Kriegshandlungen kann es als ausgeschlossen betrachtet werden, dass dieses Ziel ohne enorme Verluste an Menschen und Einrichtungen Gazas verläuft, die nicht der Hamas angehören.

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In der internationalen Öffentlichkeit wie auch besonders in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz am 12.10.2023 wird regelmässig hervorgehoben, bei dem von Israel mit Erklärung des Kriegszustands begonnenen militärischen Massnahmen handele es sich um Akte der Selbstverteidigung gemäss Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen.

Das wird trotz der grossen Einmütigkeit, mit der es immer wieder betont wird, mit nachvollziehbaren Gründen jedoch auch bestritten: der besagte Artikel findet nämlich keine Anwendung auf eine Situation, in der eine Besatzungsmacht in besetzten Gebieten handelt. Das Recht auf militärische Selbstverteidigung gilt zwischen Staaten und ist Teil ihrer internationalen Beziehungen.

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Gaza ist aber seit 1967 von Israel illegal besetzt. Das gilt auch nach dem völligen Rückzug Israels aus Gaza und der anschliessenden vollständigen Blockade des Gazastreifens von allen Seiten seit dem Jahr 2007, die ja auch militärisch derzeit eine bedeutsame Rolle spielt (Abschalten der Elektrizität, der Schliessen der Nahrungsmittelversorgungswege, Blockade der Grenze für Fliehende auch zu Ägypten durch einen schweren Luftangriff auf Rafah).

Gaza ist weder juristisch noch faktisch ein souveräner Staat, sondern juristisch Teil der von Israel als Staat explizit nicht anerkannten Palästinensischen Autonomiegebiete (PNA), faktisch von den Besetzten Gebieten der Westbank abgeschnitten und politisch von ihnen weitestgehend getrennt. Selbst wenn Staaten, die Palästina als Staat vollständig anerkennen, das anders sehen, gilt es definitiv nicht für Israel, dessen Regierungen dies eben nicht tun. Insofern ist fraglich, ob Art. 51 der UN-Charta hier anwendbar ist. Beruft sich Israel auf das aus diesem Artikel folgende Recht, erkennt es de facto Palästina, dessen Teil Gaza unzweifelhaft ist, als Staat an. Dasselbe gilt für alle anderen Staaten, z.B. die Bundesrepublik oder die USA.

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Das schliesst natürlich auch das Recht auf militärische Selbstverteidigung zum Schutz des israelischen Staatsgebiets und israelischer Bürger:innen gegen bewaffnete Angriffe aus dem Gazastreifen nicht aus. Dieses Selbstverteidigungsrecht gilt allerdings auch für die Bewohner:innen Palästinas in all seinen Gebieten.

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Mehr noch: das Recht auf auch bewaffneten Kampf gegen eine fremde Besatzung ist zumindest Völkergewohnheitsrecht, wenn nicht sogar im Völkerrecht fest verankert (Gregor Schirmer 2006). Der Kampf der palästinensischen Nationalbewegung für einen eigenen Staat und weitere politische Ziele, z.B. das Rückkehrrecht, ist international weithin anerkannt und steht ausser Frage.

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Jede palästinensische Führung hat damit das völkerrechtlich verbriefte Recht zum Widerstand bis hin zum militärischen Kampf gegen die Besatzung Palästinas durch Israel. Das ist die Konsequenz der seit 1967 andauernden Besatzung in all ihren unterschiedlichen Formen. Das Ziel dieses Kampfes ist das unveräusserliche Recht Palästinas auf Selbstbestimmung (z.B. Mandela 1990).

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Von diesem Aspekt kann und muss der Aspekt einer politischen oder moralischen Bewertung des Angriffs der unter Hamas-Führung stehenden bewaffneten Milizen des Gazastreifens unterschieden werden.

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Dazu muss zunächst klargestellt werden, dass es die nicht zuletzt auf israelischen, europäischen und US-Druck stattgefundenen Wahlen des Jahres 2006 im Gazastreifen waren, aus denen der Wahlsieg der Hamas und die Niederlage der Fatah resultierte. Diese Wahlen standen unter internationaler Beobachtung und wurden seinerzeit im Ergebnis als im Ganzen fair und frei bezeichnet. Weil die bis dahin regierende Fatah diesen Wahlausgang nicht akzeptieren wollte, kam es zu Spannungen, die 2007 durch eine militärische Auseinandersetzung zwischen Hamas und Fatah zugunsten ersterer entschieden wurde.

Die Hamas-Regierung, die seither den Gazastreifen führt, ist also nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen. Das festzustellen impliziert keine Bewertung der Regierungstätigkeit der Hamas im Gazastreifen, an der international immer wieder auch schwere Kritik geäussert wird. Allerdings hat das zahlreiche internationale Organisationen bisher nicht dazu veranlasst, ihre Beziehungen zu dieser Regierung abzubrechen.

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Die damalige israelische Regierung erreichte damit ein von ihr möglicherweise sogar angestrebtes Ziel: die Schwächung der Fatah und damit die faktische politische Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung und ihres Territoriums. Bis heute nicht endgültig öffentlich belegt ist die immer wieder geäusserte Annahme, dass Gründung und Aufbau der Hamas als islamistischer Konkurrent zu nationalistischen (Fatah) oder linken palästinensischen Bewegungen (PFLP, DFLP, KP Palästinas und andere), die unter dem Dach der PLO zusammenarbeiteten, nicht ohne Einflussnahme Israels geschah.

Sollte es so gewesen sein, folgte das einem altbekannten Muster kolonialistischer Aufrechterhaltung der Macht durch Aufspaltung der antikolonialistischen Bewegung seitens der Kolonialisten und sogar Bündnisse mit vorzugsweise deren reaktionärsten Gruppierungen (Marc Thörner, 2010). Aus der jüngeren Vergangenheit ist das z.B. aus den Auseinandersetzungen zwischen ANC und PAC im Kampf gegen die südafrikanische Apartheid bekannt und belegt.

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Es ist also zu konstatieren: nicht nur die gewählte Hamas-Führung, sondern jede Führung des Gazastreifens hätte unter den gegebenen politischen Bedingungen das Recht auf militärische Aktionen gegen Israel als Besatzer. Das ist völlig unabhängig von der Bewertung der weiteren politischen Ziele dieser Führung über das Recht auf Selbstbestimmung Palästinas hinaus oder den jeweiligen Methoden ihrer Kampfführung.

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Diese Methoden und Formen sind genau die einer antikolonialen und asymmetrischen Kriegsführung, wie sie seit Jahrzehnten bekannt ist und praktiziert wird – einschliesslich der Greueltaten, die interessierte Propagandisten des status quo sofort über diesen Kampf verbreiten, und die später leise wieder dementiert werden müssen. Damit soll nicht in Abrede gestellt oder auch nur gerechtfertigt werden, dass es zu solchen Greueltaten nicht derzeit auch kommt oder früher kam.

Aber die weitgehend entpolitiserten und dekontextualisierten Empörungs-Argumente gegen die aktuellen militärischen Aktionen palästinensischer Milizen klingen sehr ähnlich denen, die vor wenigen Jahrzehnten gegen die UmkhontoWeSizwe Kampfverbände des ANC in Südafrika, des Vietcong in Süd-Vietnam, der FNL in Algerien usw. vorgebracht wurden.

Ihr Ziel ist die Delegitimierung nicht der einzelnen, oft genug sicher unzweideutig zu verurteilenden Gewalttat – worin bestand der politische und militärische Sinn des Hamas-Angriffs auf ein Musikfestival? – sondern des Widerstands und des Kampfs um Selbstbestimmung insgesamt, der gefälligst „gewaltfrei“ zu verlaufen habe. Zudem, und ohne, dass man sie und ihren Kampf politisch in eine Reihe mit den gerade angeführten Beispielen stellen könnte: auch der zeitweise asymmetrische Kampf zionistischer Milizen bis 1948 und unmittelbar danach war nicht „zivilisierter“ – wer es nicht glaubt, möge es bei dem israelischen Historiker Ilan Pappe detailliert nachlesen [Pappe, 2007).

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Wer das ausschliesslich unter moralischem Aspekt verurteilt, stellt sich damit entweder offen auf die Seite der international von einer breiten Mehrheit der Völker wieder und wieder verurteilten Besatzung seit 1967 oder setzt unausgesprochen voraus, es gäbe auch andere, weniger zu verurteilende mildere oder gar „gewaltfreie“ Mittel als die des bewaffneten Kampfs.

Das müsste dann im Fall der Besatzung, unter der Palästina steht, gezeigt werden – eine Situation, in der westliche und Israel verbundene Kreise ja sogar völlig gewaltfreie Widerstandsformen wie die der BDS-Bewegung kriminalisieren und öffentlich ächten, von steinewerfenden Jugendlichen oder individuellen Verzweiflungsattacken ähnelnden Operationen wie Selbstmordattentaten ganz zu schweigen.

Wie man die Realität und Genese solcher Taten versuchen kann, denkend und mitfühlend und eben nicht aus einer Position von Oben moralisierend nachzuzeichnen, zeigt der später von einem palästinensischen Fundamentalisten ermordete israelische Schauspieler Guiliano Mehr-Khamis in seinem Film „Arna's Children“ (2003).

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Nun wird statt solchen eben ein regelrechter asymmetrischer Krieg geführt – aber das ist dann erst recht „Terror“. Wie soll denn irgendeine palästinensische Führung das unveräusserliche Recht auf Selbstbestimmung Palästinas so durchsetzen, dass es auch dem Besatzerstaat und seinen jahrzehntelangen internationalen Unterstützer:innen als annehmbar erscheint?

Und wie soll der Kampf für die Selbstbestimmung Palästinas ausserhalb des Nahen Ostens solidarisch unterstützt werden, wenn selbst so absolut gewaltfreie Mittel wie die der BDS-Bewegung als antisemitische Terrorunterstützung etikettiert, Solidaritätsdemonstrationen in tausenden von Kilometern vom Kriegsgebiet gelegenen Städten wie Frankfurt oder Berlin polizeilich aufgelöst und Solidaritäts-Organisationen wie Samidoun ganz einfach verboten werden?

Aber auch das ist nicht neu – noch vor wenigen Jahrzehnten galt allein schon der Aufruf zum Boykott südafrikanischer Waren als der „Terrorunterstützung“ des ANC und ihres perhorreszierten Vorsitzenden Nelson Mandelas verdächtig – heute gilt der Aufruf zum Boykott israelischer Waren manchen des Antifaschismus ansonsten völlig unverdächtigen „Antisemitismusbeauftragten“ als Fortsetzung des Nazi-Boykotts gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933.

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Eine ganz andere Frage bezieht sich auf die innere Verfasstheit Israels zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs. Mit dem Überraschungsangriffs auf israelisches Territorium war jedenfalls eine ans Mark der israelischen Gesellschaft rührende innenpolitische Krise der extrem rechten bis faschistoiden Regierung Israels vorläufig beendet. Historiker werden später einmal herausfinden, wie überraschend dieser Angriff wirklich kam und warum eigentlich – denkwürdig bleibt die wenige Stunden nach dem Angriff erfolgte Twitter-Charakterisierung des Vorgangs als „our Pearl Harbor“ durch ein rechtes Knesseth-Mitglied, sekundiert von Genozid-Aufrufen nach einer „Nakba 2.0“

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Die Krise der israelischen Gesellschaft und ihres Staats nicht erst nach den letzten Knesseth-Wahlen ist am besten verständlich als Ausdruck einer Aporie, die der israelische Historiker Moshe Zuckermann (Zuckermann, 2007) so charakterisiert hat: unter den inzwischen irreversiblen Rahmenbedingungen israelischer Politik kann es letztlich nur noch zwei Endergebnisse der künftigen Entwicklung geben - entweder eine erneute ethnische Säuberung Palästinas, diesmal vollständig „from the river to the sea“.

Oder – heute die unwahrscheinlichere von beiden Möglichkeiten – eine einheitliche säkulare Republik Palästina- Israel mit gleichen Rechten und Pflichten für alle, unabhängig von ethnischer, politischer oder religiöser Herkunft. Beide möglichen Ergebnisse des jahrzehntelangen Konflikts beenden im Grunde das zionistische Projekt eines jüdischen Staats: entweder moralisch (erste Variante) oder praktisch-politisch (zweite Variante). Während der zweite Fall zweifellos ein linkes Projekt ist, ist der erste nur möglich dank völlig offener faschistischer Gewalt. Der Weg dorthin ist wahrscheinlich bereits zu einem nicht geringen Teil beschritten.

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Die schon viele Jahre währende Agonie, was den sogenannten Friedensprozess im Nahen Osten angeht, erklärte sich demzufolge aus der Tatsache, dass jede israelische Regierung vor der Alternative steht, in entweder der einen oder anderen Weise weiterzugehen und beide begreiflicherweise scheut. Daraus resultiert ein ständiges „Vor-sich-her-Schieben“ einer objektiv notwendigen und unausweichlichen Entscheidung, was ein enormes Gewaltpotential hervorruft und letztlich das Potential zu einer faschistischen Entwicklung in sich trägt. (Übrigens gleicht dieses Vorgehen sich in analoger Weise anderen, in denen ähnlich dilatorisch verfahren wird – derzeit vielleicht am schlimmsten in der internationalen Behandlung der kapitalistischen Klimakrise und ihrer politischen Folgen [Stoodt, 2023]).

Das betrifft auch das Scheitern der „Zweistaatenlösung“: alle israelischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte haben die Siedlerbewegung in den Besetzten Gebieten unterstützt. Sie ist heute so stark und so rechtsextrem, dass es keine Regierung wagen könnte, sie im Interesse einer Zweistaatenlösung fallen zu lassen. Das könnte zu einem Bürgerkrieg in Israel führen. Umgekehrt kann sich keine palästinensische Führung auf ein derartig zerstückeltes und feinmaschig kontrolliertes Territorium wie die Westbank als „Staatsgebiet“ einlassen. Die Zweistaatenlösung ist tot. Es bleibt bei den beiden oben beschriebenen Alternativen.

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Es könnte sein, dass mit dem aktuellen Krieg die radikal rechte Regierung Netanjahu die Gelegenheit nutzt, um das Problem „Palästina“ aus ihrer Sicht ein Stück weiter auf dem Weg zu einer endgültigen ethnischen Säuberung zu bringen. Netanjahus Auftritt vor der jüngsten Generalversammlung der UN – demonstrativ mit einer Karte des Nahen Ostens ohne Palästina in seiner Hand - war vielleicht kein Zufall. Aus dem Rückblick von heute hat sie einen schrecklichen Sinn.

Hans Christoph Stoodt

Literatur / Belege

Nelson Mandela Speaking on Palestine (Extracts), New York 1990 https://www.youtube.com/watch?v=i5TiUhhm7cQ&t=625s

Giuliano Mehr-Khamis, Arna's Children, https://youtu.be/_V--Lo84O3w?si=4_oX5ZB_gFhlQyRY

Ilan Pappe, The Ethnic Cleansing of Palestine, 2007

Gregor Schirmer, Recht auf bewaffneten Widerstand oder Terrorismus? Völkerrechtliche Überlegungen, in: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 62, Juni 2005

Hans Christoph Stoodt, Thesen zur Aktualität des Antifaschismus https://wurfbude.wordpress.com/2023/10/03/thesen-zur-aktualitat-des-antifaschismus/

Marc Thörner, Der Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie, Hamburg 2010

Moshe Zuckermann, Sechzig Jahre Israel – die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Köln 2009